Kitty steht auf einem Hochhaus und blickt auf die vielen Leute in den Straßen Amsterdams. Die zum Menschen gewordene imaginäre Freundin aus Anne Franks Tagebuch droht damit das weltberühmte Diarium zu verbrennen, wenn die zahlreichen Geflüchteten der Stadt, wie angekündigt, in ihre unsicheren Herkunftsländer zurückgeschickt werden und nicht sofort die Zusage erhalten, in den Niederlanden bleiben zu dürfen. Mit dieser dramatischen Szene endet die fast hundertminütige Neuverfilmung des Tagebuchs, die der israelische Regisseur Ari Folman gedreht hat.
Die 90 Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 10 bis 13 am Johann-Wolfgang-Goethe-Gymnasiums Germersheim, welche sich am 28. Februar 2023 zu den ersten zählen durften, die „Wo ist Anne Frank“ (ohne Fragezeichen!) nach seinem deutschlandweiten Start sehen konnten, schwankten in ihrem Urteil zwischen den zauberhaften Zeichnungen, die der auch als Graphic Novel erschienene Animationsfilm zu bieten hat, und gewagten Vergleichen: Ist das Leid der Familie Frank, welche sich im Hinterhaus einer Firma von 1942 bis 1944 in beengten Räumen verstecken musste, letztlich verraten wird und mit Ausnahme von Otto Frank in den Konzentrationslagern Bergen-Belsen und Auschwitz-Birkenau verstirbt, wirklich gleichzusetzen mit der heutigen Situation der Geflüchteten, deren täglicher Alltag auch von ständiger Angst vor Abschiebung in ihre Heimat geprägt ist, in denen ihnen Verfolgung, Folter und Tötung droht? Gibt es Gemeinsamkeiten mit dem Sterben in den Gaskammern des Nationalsozialismus in den 1940er Jahren? Kann man von einer Singularität des deutschen Faschismus sprechen?
All diese Fragen, welchen sich bereits Generationen von Historikerinnen und Historikern gewidmet haben, werden durch den Film des Regisseurs, dessen Eltern das Konzentrationslager Auschwitz überlebt haben, erneut aufgeworfen.
Vor dem Kinobesuch in der Karlsruher Schauburg waren die Schülerinnen und Schüler im Geschichtsunterricht durch Texte, Dokumentationen und Spielfilme auf den Kinobesuch vorbereitet worden. Umstritten scheint, ob sich Anne Frank als Animationsfilm eignet und inwieweit dies Ari Folman mit seinen eindrücklichen Bildern gelungen ist, ein Thema für die Nachbesprechung im Unterricht.
Dirk Wippert