„Kajetan war nicht mehr da!“ – Heiner Geißler beeindruckt die MSS 11 und 12 mit Erinnerungen und Einordnungen

Am 9. November 2016 veranstaltete das Johann-Wolfgang-Goethe-Gymnasium Germersheim traditionell anlässlich des historisch vielfach besetzten Datums eine Diskussion mit Politikern aus der Region. Gast war diesmal auf Wunsch von einigen Schülerinnen und Schülern der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler aus Gleisweiler. 


In einer neunzigminütigen Veranstaltung sprach der ehemalige Bundesfamilienminister in der Gymnastikhalle mit den Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufe 11 und 12. Nach einer kurzen Einführung durch Sozialkundelehrerin und Organisatorin Katharina Rinck informierten zu Beginn einige Mitglieder der Klasse 10y über die mehrfache Dimension des 9. November mit Fokus auf dem Jahr 1938 (Inbrandsetzung von Synagogen und Verhaftung von Juden in und nach der Reichspogromnacht) und 1989 (Fall der vom DDR-Regime im Jahr 1961 gebauten Mauer). Beide Daten wurden mit aktuellen Ereignissen verbunden. Ein Vergleich mit der nationalsozialistischen und sozialistischen Diktatur sollte hierbei ausdrücklich nicht gezogen werden. Vielmehr sollte aufgezeigt werden, in welchen Bereichen unsere demokratischen Grundwerte bedroht sind, warum ein Wachhalten der Erinnerung auch in der heutigen Zeit wichtig ist und welche Lehren aus den zurückliegenden Epochen der deutschen Geschichte für eine gelingende Demokratie gezogen werden können. Einem Bild mit einem judenfeindlichen Schild aus der Zeit des Nationalsozialismus wurde hierbei ein Foto mit Schild „Refugees go home“ aus dem Jahr 2015 gegenübergestellt. Einem Plakat mit einer brennenden Synagoge am 9. November 1938 folgte eine Abbildung mit einer brennenden Asylbewerberunterkunft im sächsischen Bautzen aus dem Jahr 2016. Der Darstellung zweier DDR-Soldaten an der zu errichtenden Mauer im Jahr 1961 folgte ein Bild, auf dem deutsche Polizisten Flüchtlinge an der Grenze zu Deutschland beobachten. Zitiert wurde hierbei die Forderung der AfD-Parteivorsitzenden Frauke Petry, an den Grenzen notfalls von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Schließlich erinnerten die Zehntklässlerinnen und Zehntklässler daran, dass der 9. November eine permanente Aufforderung an alle sei, sich der Bedingungen von Freiheit und der zu ihrem Schutz notwendigen Voraussetzungen bewusst zu werden. Er sei ein Appell für Zivilcourage und die Grundlage unserer wehrhaften Demokratie. Neben die im Vordergrund hängenden Plakate zum 9. November 1938 und 1989 sowie den Bildern aus den Jahren 2015 und 2016 pinnten die Mittelstufenschülerinnen und Mittelstufenschüler die als Aufforderung zu verstehenden Textkarten „demokratische Werte verteidigen“, „Menschlichkeit zeigen“, „Mut zum Widerstand“, „Hinsehen statt Zusehen“, „Handeln statt Schweigen“ und „Einmischen und Mitmischen“. Musikalisch wurde das Programm durch Maximilian Hampl (MSS 12) bereichert, wobei er das Publikum mit Johann Sebastian Bachs Präludium und Fuge g-moll auf die Veranstaltung einstimmte.
Im Anschluss beantwortete Heiner Geißler Fragen zu seinen Erinnerungen an den 9. November 1938 und 1989 und zu seinem ereignisreichen politischen Leben. Zudem ordnete er aktuelle politische Themen ein.
Auf die Frage von Michelle Lanfermann (MSS 12), wie der gebürtige Schwabe als Achtjähriger die Reichspogromnacht erlebt habe, führte der studierte Jurist aus, dass er direkt überhaupt nichts mitbekommen habe. Jedoch sei der damals als „Zigeuner“ bezeichnete Kajetan in seiner Grundschulklasse gewesen, welchen die Lehrer absichtlich alleine in die letzte Reihe des Klassenzimmers verbannt hätten. Geißler habe aber unbedingt neben seinem Freund sitzen wollen, was ihm nach einigem Drängen gewährt worden sei. Eines Tages aber sei der Wohnwagen von Kajetans Familie einfach verschwunden. Nur noch die Wagenspuren im Sand seien zu sehen gewesen. Später habe er von den Erwachsenen erfahren, dass Kajetan, seine zwei Schwestern und seine Eltern ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert wurden. Nur Kajetan selbst habe überlebt und habe Geißler in den Achtziger Jahren wiedergetroffen. Geißler ergänzte, ebenso sei es ihm mit seiner Klavierlehrerin Judith Holz ergangen. Die Halbjüdin sei einfach plötzlich verschwunden. Seine Mutter habe sich zunächst um eine Erklärung gedrückt. Letztlich sei aber klar geworden, dass die Pianistin im Konzentrationslager Mauthausen gestorben sei. Angesichts dieser beiden Erfahrungen habe er sich immer gegen Nationalismus und Rassismus eingesetzt.
Leah Röhrling aus der Jahrgangsstufe 12 erkundigte sich bei Geißler, wo er vom Mauerfall erfahren habe, woraufhin der spätere Schlichter im Konflikt um Stuttgart 21 ausführte, er habe sich auf der Rückfahrt von einem Vortrag aus Zürich befunden und habe die Nachricht leider nur dem Autoradio entnommen. Sein Sohn Dominik sei hingegen glücklicherweise in Berlin zugegen gewesen.
Die Zwölftklässlerin Elisabeth Siemens befragte den regelmäßigen Schlichter von Tarifkonflikten nach seinen Beweggründen, in die Politik zu gehen. Geißler erklärte, er habe mit 23 Jahren festgestellt, dass das Leben im Jesuitenorden Sankt Blasien nicht für ihn bestimmt sei. Dennoch sei es ihm wichtig gewesen, etwas „Notwendiges“ zu tun und sei während seines Studiums in Tübingen dem Ring christlich-demokratischer Studenten (RCDS) beigetreten. In Baden-Württemberg sei er hiernach Vorsitzender der Jungen Union gewesen. Seine Wahl in den Deutschen Bundestag im Jahre 1965 sei etwas ganz Großartiges gewesen, kein Beruf, sondern eine Berufung. Sein großes Ziel sei die vertiefte Zusammenarbeit in der Europäischen Union gewesen. Es sei vereinbart worden, in Europa keine Grenzen mehr zu verschieben, sondern diese zu akzeptieren. Die Annexion der ukrainischen Krim durch den russischen Präsidenten Putin im Jahr 2014 verglich Geißler mit der widerrechtlichen Heimholung des Sudetengebiets 1938 durch die Nationalsozialisten.
Da Heiner Geißler in seiner Zeit als CDU-Generalsekretär häufig als sehr abwertend gegenüber dem politisch linken Spektrum gegolten habe, wollte Lena Ohmer (MSS 12) wissen, weshalb er heute teilweise eher linke Positionen vertrete. Geißler rechtfertigte seine Kritik an der Friedensbewegung der späten Siebziger und frühen Achtziger Jahre damit, dass seine Unterstützung für den NATO-Doppelbeschluss die richtige Entscheidung gewesen sei, da damit der Frieden wirklich gewahrt worden sei. Später hätten ihm seine damaligen Kritiker Gerhard Schröder, Joschka Fischer und Otto Schily Recht gegeben, da diese in ihren späteren Funktionen als Kanzler, Außenminister und Innenminister der Bundesrepublik 1999 kriegerisch im Kosovo eingegriffen hätten, um eine noch größere menschliche Katastrophe zu verhindern.
Daran anknüpfend befragte Anna Schlichenmaier (MSS 12) den 2002 aus dem Deutschen Bundestag ausgeschiedenen Geißler, weshalb er seit 2007 Mitglied der als „links“ geltenden Organisation Attac sei. Geißler begründete seine Unterstützung für das Netzwerk damit, dass er die Erhebung einer internationalen Transaktionssteuer für Börsengeschäfte als dringend geboten empfinde. Er bedauere, dass die US-amerikanischen Republikaner und die britischen Tories eine Einigung verhindern. Mit der Steuer könnte sehr viel Sozialpolitik finanziert werden. Zudem könnten die Milleniumsziele der UNO eingehalten werden. Geld gäbe es generell wie Dreck, es hätten nur die falschen Leute. Die Kritik an seiner Mitgliedschaft auch aus seiner eigenen Partei könne er nicht nachvollziehen.
Zu einer erneuten Kanzlerkandidatur Angela Merkels äußerte sich Geißler – auf Nachfrage von Marielle Wendling (MSS 12) – eindeutig: Merkel habe dem im Ausland als Technologienation wahrgenommenen Deutschland ein menschliches Gesicht gegeben, indem sie in der Flüchtlingskrise die richtige Entscheidung getroffen habe. Dies sei folglich auch für den deutschen Export ein großer Vorteil. Die Kritik von PEGIDA und AfD an Merkel wies Geißler schroff zurück: In jeder Bevölkerung gebe es einen Bodensatz von etwa 15 Prozent, welcher sich gegen Fremde, Frauenrechte und Europa sowie für die Todesstrafe und dichte Grenzen einsetze. Sollte Merkel 2017 nicht nochmals antreten, wäre dies eine große Dummheit.
Wie die CDU konservative Wähler, die ins Lager der Nichtwähler, zur FDP oder zur AfD übergewechselt sind, zurückgewinnen könne, wollte Alexander Deitner (MSS 12) wissen. Geißler entgegnete, die CDU bestehe seit ihrer Gründung aus einer liberalen, einer konservativen und einer christlich-sozialen Strömung, was durch die Soziale Marktwirtschaft unterstrichen worden sei. Überdies sei sie auch aktuell konservativ. Vielmehr gebe es in der CDU Einfallspinsel, die die Partei nach dem Vorbild der britischen Tories umgestalten wollten. Dies dürfe nicht geschehen. Als Beispiele für das Konservative in der CDU nannte er die Energiewende, die Aussetzung der Wehrpflicht und den Kitaausbau. In allen drei Fällen, in denen die CDU ihre Position in den letzten Jahren veränderte und die in der Öffentlichkeit als Linksruck wahrgenommen worden seien, spielten in Wahrheit konservative Gedanken eine große Rolle: Die Energiewende sei für die Bewahrung der Erde die einzig richtige Entscheidung gewesen. Die Aussetzung der Wehrpflicht sei wegen der fehlenden Wehrgerechtigkeit notwendig gewesen, während der Kitaausbau den Bestand der Familie bewahre, da es der Lebenswirklichkeit entspreche, dass oftmals zwei Elternteile für den Lebensunterhalt sorgen müssten.
Die Zukunft der USA und Europas nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten thematisierte Van Nghiem (MSS 12). Geißler bezeichnete die Wahl des Unternehmers als „Katastrophe“, „falsche Entscheidung“ und „noch dümmer als den Brexit“. Er äußerte die Hoffnung, dass Trump umgeben von fähigen Personen eine verantwortungsvolle Haltung einnehmen und im Amt zur Vernunft gelangen könne. Während des Wahlkampfs sei er maßlos gewesen und habe Frauen, Mexikaner, die Bundeskanzlerin und Farbige beschimpft. Putin hingegen habe er gelobt. Armut und Arbeitslosigkeit würden unter Trump weiter zunehmen. Seine eigene Partei und ihre Schwesterpartei warnte er, es Trump nicht gleich zu tun und ebenfalls einfache Lösungen gegen beispielsweise Ausländer anzubieten, wie dies derzeit in Polen und Ungarn zu beobachten sei. Er forderte die Schülerinnen und Schüler dazu auf, sich in politischen Parteien und Nichtregierungsorganisationen einzumischen. Politik sei kein schmutziges Geschäft.
Hieran anknüpfend erfragte Florian Schaile (MSS 12), inwieweit Trump die Lage in Syrien verändern könne. Geißler unterstrich, dass sowohl Clinton als auch Trump Europa mehr in der Pflicht gesehen hätten, sich im Nahen Osten zu engagieren. Dem stimme er zu. Die Diplomatie habe nicht viel gebracht, weswegen er – unabhängig von der Position seiner eigenen Partei – eine militärische Lösung durch die NATO in Syrien vorschlage, ähnlich dem Krieg im Kosovo 1999, da ansonsten das Morden einfach weiterginge.
Nach zahlreichen und sehr vielfältigen Fragen der Schülerinnen und Schüler bedankte sich Lehrerin Katharina Rinck für die angeregte Diskussion und bei Herrn Geißler für sein Kommen. Das Goethe-Gymnasium blickt auch in diesem Jahr auf die sehr gelungene Tradition der politischen Gespräche anlässlich des 9. November zurück und freut sich über das Engagement aller Beteiligten.

Dirk Wippert

 

 

Johann-Wolfgang-Goethe-Gymnasium
August-Keiler-Straße 34
T +49 7274 7024-70
76726 Germersheim F
+49 7274 7024-80
Öffnungszeiten Sekretariat: M Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.
Mo-Do  7:15 - 16:00 Uhr W  www.goethe-gym-ger.de
Fr          7:15 - 13:30 Uhr    

 

Free Joomla templates by Ltheme