„Was sind die ersten Schritte vom Roman zum Theaterstück?“ fragt Lea Schanne und blickt von ihrem Sitz in den Zuschauerreihen nach vorne in Richtung Bühne. Dort steht Regisseur Alexander Charim und antwortet in einem sympathischen und unverkennbaren Wiener Dialekt: „Zuerst muss man lesen, dann lesen und nochmal lesen! 20- bis 30-mal!“
20- bis 30-mal? Die Neuntklässlerinnen und Neuntklässler sind erstaunt. Das hätten sie nicht erwartet!
Der Inszenator rückt seine charismatische Brille zurecht und erklärt: „Nur so kann man den Text durchdringen und immer wieder neue Ideen für die Umsetzung entwickeln!“
hintere Reihe: Ilja Gornitch, Valentin Lösch, Julius Buttweiler, Johannes Remm, David Ciubotariu, Hubert Strauch und Jonathan Maier
mittlere Reihe: Maxim Brauer, Eneas Orschel, Yllka Sinani, Annika Przygode, Maja Bertenbreiter, Mia Hoffmann, Teresa Rüsenberg, Elelta Kiros, Lucas Reichling, Nico Mädel, Simon Köhler und Kacper Surma
vordere Reihe: Sofiia Ponomarowa, Emma Bertleff, Julia Wojtala, Finia Wienert, Jonas Dietz, Jennifer Mühl, Thuy Linh Vu und Lea Schanne
Aber nicht nur das äußerst aufschlussreiche Interview mit dem 41-jährigen Theatermacher faszinierte am 24. Mai 2022 die 27 Schülerinnen und Schüler der Klasse 9a des Johann-Wolfgang-Goethe-Gymnasiums Germersheim, sondern auch die spannende einstündige Theaterführung durch das wunderschöne neubarocke Baden-Badener Theater. Theaterpädagogin Isabell Dachsteiner beantwortete dabei auf einem Rundgang, der auch in die Maske und in den Theaterfundus führte, zahlreiche Fragen vom Anfertigen einer Perücke bis zum Hintergrund der ausgefallensten Accessoires.
Für die Inszenierung des während des Nationalsozialismus verbotenen „Jugend ohne Gott“ war die 9a vom Theater Baden-Baden als Premierenklasse ausgewählt worden und durfte folglich einige Szenen aus dem Roman des österreichisch-ungarischen Schriftstellers Ödön von Horváth betrachten, noch bevor diese dem Premierenpublikum zugänglich gemacht wurden. Besonders faszinierend wirkte hierbei der Austausch zwischen den Schauspielerinnen und Schauspieler untereinander und hiernach mit dem Regisseur, die ständige Diskussion, wie ein Schubsen und Fallen auf der Bühne am besten wirkt sowie das Herausheben der Szene „Der Tormann“, welche von Charim ideenreich verändert und mit großer Wirkung und Aussagekraft dargestellt wurde.
Beim anschließenden Gespräch mit dem Spielleiter wollte Jennifer Mühl wissen, ob sich das aufzuführende Stück während der Proben weiterentwickle und ob dieses nach der Premiere unverändert bliebe, woraufhin Charim betonte, dass es gerade spannend sei, dies nicht immer auf dieselbe Weise aufzuführen und jede bessere Idee aufgegriffen werde. Einen Zwang, etwas Innovatives zu bieten, gebe es nicht, jedoch liege gerade in unterschiedlichen Interpretationen eine besondere Faszination. „Jugend ohne Gott“ fand er schon immer reizvoll.
Vor dem abwechslungsreichen Tag in Baden-Baden hatte die 9a sich bereits vier Wochen mit dem Roman des deutschsprachigen Autors in Deutschunterricht beschäftigt. Unmittelbar vor der Theaterführung wurde die Zeit noch im idyllischen Kurpark auf Brücken, Parkbänken und vor dem Museum Frieder Burda für Vorträge einzelner Schülerinnen und Schüler zu ausgewählten Kapiteln und Charakteren aus „Jugend ohne Gott“ genutzt.
Am 8. Juli 2022 wird die 9a dann die Aufführung von „Jugend ohne Gott“ in Baden-Baden erleben dürfen. Zudem ist kurz vor Ende des Schuljahres ein Workshop samt Wirkungsgespräch mit Isabell Dachsteiner geplant.
Wie aktuell der Roman auch 85 Jahre nach seiner Veröffentlichung ist, zeigt beispielsweise das 2021 erschienene Antifaschismusstatement der Band Tocotronic „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“.
Dirk Wippert