„Hinkt die CDU dem Rollenbild der Gesellschaft hinterher?“, fragt Katharina Kirchner und erwartet gespannt die Antwort von Christine Schneider. Die Abgeordnete des EU-Parlaments bestreitet nach der langen Phase des Online- und Wechselunterrichts einen ihrer ersten Präsenztermine in Schulen und muss nicht lange überlegen. Die gebürtige Landauerin gibt zu bedenken, dass es weniger das Rollenbild als vielmehr die Wirkung auf junge Frauen und Familien sei, das der Partei zu schaffen mache. Auch bezüglich der einzelnen Gruppen in der christdemokratischen Partei müsse differenziert werden. In der Jungen Union gebe es andere Haltungen als in der Seniorenunion. Insgesamt habe die CDU zu wenige weibliche Mitglieder. Doch sei der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler ihr Mentor gewesen und habe sie immer darin bestärkt, sich für die Frauen in der Partei stark zu machen. Unionskanzlerkandidat Armin Laschet sei nun gefragt, die CDU für junge Frauen attraktiver zu gestalten.
Aber nicht nur die Situation einzelner Parteien bereicherten am 11. Juni 2021 die Diskussion der Leistungskurse Sozialkunde (MSS 11 und MSS 12) am Johann-Wolfgang-Goethe-Gymnasium Germersheim mit den beiden EU-Parlamentarierinnen Christine Schneider (CDU) und Jutta Paulus (Grüne), sondern auch zahlreiche weitere Debattenpunkte der zwanzig Schülerinnen und Schüler anlässlich des EU-Projekttags, zu dem auch der der rheinland-pfälzische Landtagsabgeordnete Matthias Joa erschienen war und sich den Fragen des bilingualen Grundkurses Sozialkunde (MSS 12) stellte.
Die Rollenbild wurde auch von Emily Berge thematisiert. Sie erkundigte sich, ob man als Frau in der Politik anders wahrgenommen werde als die männlichen Kollegen und bezog sich hierbei auf die abwertenden Kommentare während und nach dem Auftritt von Ricarda Lang in Frank Plasbergs TV-Sendung „Hart, aber fair“. Das Körpergewicht der stellvertretenden Parteivorsitzenden der Grünen war durch etliche Tweets und Posts menschenverachtend dargestellt worden. Christine Schneider bestätigte, dass das Aussehen der Frauen eine größere Rolle spiele als bei Männern und viele Politikerinnen Hate Speech und großen Herabwürdigungen ausgesetzt seien. Jutta Paulus konnte glücklicherweise berichten, dass es ihr selbst noch nicht so ergangen sei und dies vor allem bei Innenpolitikerinnen der Fall sei, die sich gegen das rechtsradikale und -extreme Spektrum wendeten. Ricarda Lang sei eine ganz starke Frau und es habe sie gefreut, dass sich Leute parteiübergreifend hinter die ehemalige Sprecherin der Grünen Jugend gestellt hätten, sogar Ulf Poschardt von der Tageszeitung „Die Welt“. Dennoch schrecke diese Entwicklung viele Frauen ab.
Jonas Huber erkundigte sich, ob das Verbot von Glyphosat, welches sich im Wahlprogramm der Grünen befinde, als „Ökopopulismus“ einzustufen sei. Christine Schneider unterstrich, dass die Wissenschaft beachtet werden müsse. Glyphosat sei weniger krebserregend als Kaffee. Glyphosat brauche man, um in gewissen Ecken anbauen zu können, allerdings nicht im Weinbau. Als „Ökopopulismus“ wolle sie das allerdings nicht bezeichnen und auch die grüne Naturwissenschaftlerin aus Neustadt an der Weinstraße wies diesen Vorwurf deutlich zurück. Die entscheidende Diskussion sei nicht, ob Glyphosat krebserregend sei. Vielmehr zerstöre Glyphosat die Biodiversität und das Immunsystem von Bienen. Auch spare Glyphosat keinen Kohlenstoffdioxidausstoß ein, da es auch hergestellt werden müsse. Auch kritisierte sie den ehemaligen Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, Christian Schmidt (CSU), für seine ausschlaggebende Zustimmung auf EU-Ebene zur weiteren Zulassung von Glyhosat im Jahr 2017 gegen den Willen der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Barbara Hendricks (SPD).
Auf Sena Engins Frage, ob die Zusammenarbeit mit den EVP-Fraktionskolleginnen und -kollegen aus anderen EU-Mitgliedsstaaten einfacher oder anspruchsvoller sei, entgegnete Schneider, dass Pfälzisch ihre Muttersprache sei und dass sie, obwohl sie selbst den Leistungskurs Englisch absolviert habe, sich nochmals fortbilden habe müssen. Die unterschiedlichen Sprachen auf EU-Ebene seien sehr spannend.
Die Erweiterung der Europäischen Union thematisierte Fabienne Rieder mit ihrer Frage, welches Land noch in die EU aufgenommen werden sollte. Die Spitzenkandidatin der rheinland-pfälzischen CDU bei der Europawahl 2019 bedauerte, dass die Türkei unter Recep Tayyip Erdogan eine schlechte Entwicklung durchgemacht habe. Als demokratisches Land wäre das Land gut gewesen. Nun habe sie für den Abbruch der Verhandlungen gestimmt. Notwendig sei es, Nordmazedonien eine Perspektive zu geben, da das ursprüngliche Mazedonien hierfür extra seinen Namen geändert habe. Zur Zeit stünde aber eher eine Konsolidierung der Europäischen Union als eine Erweiterung an. Die ehemalige Landesvorsitzende der rheinland-pfälzischen Grünen präferierte einen Beitritt Albaniens.
Florian Weis wollte wissen, ob Christine Schneider froh sei, dass der ungarische Regierungschef Viktor Orbán und seine FIDESZ nicht mehr Teil der EVP-Fraktion sind. Schneider bedauerte dies, habe aber dafür gestimmt, dass die EVP ihre Geschäftsordnung geändert hat, der den Ausschluss möglich gemacht hätte, dem aber FIDESZ durch den Austritt zuvorgekommen sei. Orbán sei mehr als einmal die Hand gereicht worden. Eigenartig sei doch, dass ein Ministerpräsident über die Fraktionszugehörigkeit von Abgeordneten bestimme, diese seien doch eigentlich frei.
Dennis Hodzic befragte Christine Schneider, ob die Bezüge der EU-Abgeordneten gerechtfertigt seien. Christine Schneider erklärte, dass zur Grunddiät von fast 6800 Euro 4000 Euro steuerfreue Entschädigung für das Wahlkreisbüro und Ähnliches hinzukämen und je nach Anwesenheit auch Tagegelder gewährt würden. Damit verdiene man mehr als im rheinland-pfälzischen Landtag, jedoch verdiene ein Sparkassendirektor mehr. Den Beruf als Politiker:in dürfe man sich nicht wegen des Gehalts aussuchen, da man sieben Tage in der Woche arbeiten müsse. Ob die Bezüge gerechtfertigt seien, müssten die Wählerinnen und Wähler entscheiden.
Victor Kusterer hinterfragte das Management von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in der Corona-Pandemie: „Hat es eine Handlungshysterie gegeben, die nun die Steuerzahler ausbaden?“ Schneider beschwichtigte, die Situation sei sehr schwierig gewesen. Keiner habe genau Bescheid gewusst. Nicht alles sei richtig gewesen. Sie hoffe, dass im Herbst 70% der Bevölkerung durchgeimpft sei.
Lea Schüler thematisiete die Schulpolitik des Landes Rheinland-Pfalz und wollte wissen, was für Integrierte Gesamtschulen und gegen Hauptschulen spreche. Schneider unterstrich, dass sie als gelernte Tischlerin gegen die Abschaffung der Hauptschulen gewesen sei.
Sena Engin befragte Jutta Paulus, ob sie als Politikerin selbstbewusst sei oder auch eine gewisse Angst verspüre. Die Umweltpolitikerin betonte, Angst sei ein schlechter Ratgeber.
Nils Altmann befragte die ehemalige rheinland-pfälzische Landtagsabgeordnete der Christdemokraten, ob die Grünen die CDU lang- oder sogar kurzfristig als Partei Nummer 1 ablösen werden, was Christine Schneider klar verneinte. Bei der Europawahl 2019 habe es einen Hype der Grünen aufgrund der Bewegung Fridays for Future gegeben. In ihren 25 Jahren in der Politik habe es immer wieder Höhen und Tiefen gegeben.
Lea Schüler wollte erörtert wissen, ob es eine Doppelmoral sei, wenn einerseits der ehemalige baden-württembergische Umweltminister Franz Untersteller mit sehr hoher Geschwindigkeit Tempo geblitzt wurde und andererseits die Grünen für ein Tempolimit antreten, worauf Paulus einräumte, dass dies sehr schlecht gewesen sei und die Grünen selbstverständlich keine besseren Menschen seien. Auch sie habe ihren Führerschein schon abgeben müssen, da sie über eine rote Ampel gefahren sei.
Nils Altmann erkundigte sich nach Jutta Paulus´ Meinung zu einem Bericht der BILD-Zeitung, der die Grünen-Bundestagsabgeordneten als Vielflieger:innen ausweist. Paulus betonte, sie kenne die Statistik nicht. Vielmehr sei ein Paradigmenwechsel notwendig. Das Fliegen dürfe nicht am billigsten sein. Die Bahn sei kaputtgespart worden und es sei immer unklar, ob man seine Anschlusszüge noch bekomme. Nur im Vereinigten Königreich ginge es der Bahn angesichts der Vollprivatisierung noch schlechter. Den von Bundesverkehrminister Andreas Scheuer vorlegten Deutschlandtakt 2030 gebe es in der Schweiz schon seit 30 Jahren. Die Kerosinsteuer müsse kommen. Ein transeuropäisches Bahnnetz sei notwendig.
Die Außenwirkung der Grünen wurde von Paul Wagner angesprochen, da die Partei lediglich einen Cent mehr an Erhöhung des Spritpreises fordere als die Große Koalition, aber medial allein dafür abgestraft werde. Paulus unterstrich, dass es gut gewesen wäre, in der Erklärung mit dem Energiegeld für die Menschen zu beginnen und hiernach erst die Benzinpreiserhöhung zu nennen.
Emily Berge hakte nach und fragte, ob die Grünen zu ehrlich seien, wenn sie unpopuläre Waffenlieferungen an die Ukraine und die Erhöhung des Benzinpreises forderten sowie ihre Nebeneinkünfte transparent nachmeldeten. Jutta Paulus hob hervor, dass hier teilweise doppelte Standards angewendet würden. Armin Laschet habe in seiner Zeit an der RWTH Aachen Klausuren verschlampt und darüber rede nun fast niemand mehr. Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock habe es versäumt, ihren Lebenslauf 100% wasserdicht zu gestalten, aber man habe kein Kommunikationsproblem wie im Bundestagswahlkampf 2013, als es nur noch um Steuererhöhungen anstatt um andere Inhalte gegangen sei.
Florian Weis legte nach und wollte wissen, ob Annalena Baerbock an ihren eigenen Ansprüchen scheitere, wenn einige Grünen-Mitglieder den Titel „Deutschland“ aus dem Wahlprogramm streichen wollten. Jutta Paulus bekräftigte, dass der Titel bleiben sollte.
Jonas Huber thematisierte, ob die Biolandwirtschaft einer solch großen Förderung bedürfe. Jutta Paulus unterstrich, dass der Fleischkonsum reduziert werden sollte und zu viele Lebensmittel weggeschmissen würden. Vielmehr sollte eine ehrliche Kostenrechnung aufgestellt werden. Lea Schüler hakte nach, ob folglich das Containern in Deutschland legalisiert werden sollte. Jutta Paulus hob hervor, dass man sich an Frankreich orientieren sollte, wo Lebensmittelläden gar nichts mehr wegschmeißen dürfen. Ob auch das Mindesthaltbarkeitsdatum abgeschafft werden sollte, wollte Paul Wagner wissen, woraufhin Jutta Paulus empfahl, wie im Englischen die Bezeichnung „Am besten vor“ („Best before“) zu verwenden.
Katharina Kirchner erkundigte sich, ob Martin Sonneborn, der Vorsitzende von Die Partei, in die Grünen-Fraktion im EU-Parlament aufgenommen werden sollte, um mehr Stimmen zu haben als die rechtsradikale ID-Fraktion. Jutta Paulus winkte ab und meinte, die Grünen wollten ihn gar nicht haben, da sein Humor manchmal den Anstand überschreite.
Nach jeweils 45 Minuten intensiver Diskussionen, die aufgrund der Corona-Hygienebestimmungen getrennt in den beiden Leistungskursen und dem bilingualen Grundkurs in drei unterschiedlichen Räumen stattfanden, kann das Goethe-Gymnasium auf eine sehr gelungene Veranstaltung zurückblicken.
Bereits zuvor hatte der Leistungskurs Sozialkunde (MSS 12) seit Beginn der Corona-Pandemie mit zahlreichen Journalist:innen, Wissenschaftler:innen und Politiker:innen digital diskutiert, darunter auch bereits online mit Christine Schneider und Jutta Paulus im Dezember 2020. Auch der Parlamentarische Staatssekretär beim Gesundheitsminister Thomas Gebhart (CDU) stand im April 2020 und Januar 2021 gleich zweimal zur Verfügung. Das Videogespräch mit dem Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums, Thomas Hitschler (SPD), stand im Juni 2020 auf dem Programm, jenes mit dem neuen Landtagsabgeordneten Markus Kropfreiter (SPD) im März 2021. Im Juni 2020 debattierten die Schülerinnen und Schüler mit Winfried Folz, dem Hauptstadtkorrespondenten der Rheinpfalz, und erfuhren hierbei viel über den „Journalismus in Zeiten von Corona und Fake News“. Im Mai 2021 war der SWR-Journalist Dominic Hebestreit in den Klassensaal zugeschaltet worden. Der Konstanzer Politikwissenschaftler Marius Busemeyer informierte im März 2021 über seine Arbeit..
Durch die erste Präsenzveranstaltung mit Christine Schneider, Jutta Paulus und Matthias Joa wurden die digitalen Gesprächsrunden nun ideal ergänzt.
Dirk Wippert